Nach den letzten Parlamentswahlen in Polen haben sich die politischen Kraftverhältnisse im östlichen Nachbarland Deutschlands verändert. Die bisherige national-konservative Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ hat keine Mehrheit mehr und so kam es zu einer neuen Mitte-Links-Koalition unter der Führung von Donald Tusks Bürgerplattform. Für das gesellschaftliche Engagement im Bereich der Kultur-,Bildungs-, und Jugendarbeit sowie vor allen Dingen im Bereich der Spracharbeit gibt das Wahlergebnis und die neugebildete Regierung Hoffnung auf Entspannung – im deutsch-polnischen Verhältnis und vor Ort im Umfeld der Deutschen Minderheit.
Wie steht es unter diesen Voraussetzungen nach den Parlamentswahlen und dem ihnen folgenden Regierungswechsel um die Tätigkeit der Deutschen Minderheit in Polen? Welche politischen und gesellschaftlichen Perspektiven und Herausforderungen bringt der Machtwechsel in Warschau für die Deutsche Minderheit mit sich? Wie stellt sich die Deutsche Minderheit in den kommenden Wochen und Monaten politisch auf, nachdem sie keinen Vertreter mehr im Sejm hat? Welche Rolle wird die Deutsche Minderheit nun in den Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Polen einnehmen können? Darüber sprach als Moderator der Stiftungsratsvorsitzende Hartmut Koschyk mit Natalie Pawlik MdB, der Beauftragten der Bundesregierung für nationale Minderheiten und Aussiedlerfragen, Dr. Magdalena Lemanczyk, Soziologin am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften sowie Rafał Bartek, dem Vorsitzenden des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) und Knut Abraham MdB, Mitglied im Stiftungsvorstand der Stiftung Verbundenheit, ehemaliger Diplomat und Gesandter an der Deutschen Botschaft in Warschau.
Nach der Begrüßung durch den Stiftungsratsvorsitzenden Hartmut Koschyk beschrieb der Vorsitzende der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen Rafał Bartek die derzeitige Situation der Deutschen Minderheit, in der gerade der Sprachunterricht eine hervorgehobene Rolle spielt und die ersten Schritte der Entspannung diesem Thema gelten. Nach den ersten Gesprächen mit der stellvertretenden Bildungsministerin wurde deutlich, dass gerade durch die Übernahme des bestehenden Haushalts durch die neue Regierung sowie durch das Problem, dass durch die Reduzierung des muttersprachlichen Deutschunterrichts Deutschlehrer fehlen, ab dem kommenden Schuljahr 2024/2025 geplant ist, das Fach „Deutsch als Minderheitensprache“ wieder auf dem früheren Niveau den mehr als 50.000 betreffenden Schülerinnen und Schülern anzubieten.
Natalie Pawlik betonte, dass der Ausgang der Parlamentswahlen als Chance und Hoffnung gesehen werden kann, da gerade Deutschland und Polen auf eine gemeinsame Geschichte schauen können. Insbesondere habe auf politischer Ebene das deutsch-polnische Verhältnis gelitten und sie sei froh, unter der proeuropäischen Regierung enger zusammenzukommen. „Der Deutschen Minderheit kommt eine entscheidende Rolle zu, da sie schon immer dazu beigetragen hat, ein positives Deutschlandbild zu zeigen und auch nach Deutschland hineingewirkt hat“, sagte Natalie Pawlik. Es sei schrecklich gewesen, dass die Deutsche Minderheit und insbesondere die Kinder und Jugendlichen für politische Interessen, die Verbreitung bestimmter antideutscher Narrative genutzt wurden. Natalie Pawlik erwähnte allerdings auch, dass sie es sehr bedauere, dass kein Abgeordneter der DMi nun die Belange der Minderheit im Parlament als Sprachrohr vertreten kann.
Frau Dr. Lemanczyk berichtete, dass in ihrer Forschung zur Deutschen Minderheit besonders deutlich geworden sei, dass die anti-deutsche Rhetorikder PiS-Regierung einen großen Einfluss auf die Mitglieder der Deutschen Minderheit hatte, die sich als Minderheit in ihrem Land weniger anerkannt fühlten und weiterhin fühlen. Psychosoziale Aspekte wie aufkommende Wut, Frusttration, die Sorgen um die Zukunft und das Fühlen von Ungerechtigkeit in Bezug auf die Junge Generation und die Bildungslage waren vorrangig in der Forschung erkannt worden. „Der Trend der Polarisierung und Emotionalisierung gegenüber der Gruppe der Deutschen Minderheit und gegenüber Deutschland allgemein hat sich nach den Parlamentswahlen keineswegs abgeschwächt. Die Atmosphäre hat sich jedoch verbessert.“
Knut Abraham erklärte, dass bereits in den ersten Tagen der neuen polnischen Regierung durch Besuche wie z.B. des polnischen Außenministers in Deutschland, der geplanten Fahrt einer Parlamentariergruppe aus Polen in den Deutschen Bundestag oder Besuch des deutschen Justizministers in Warschau wieder Treffen der Annäherung stattfinden. „Es geschieht natürlich ein Wandel,aber viele Probleme bleiben und sind nicht über Nacht wegzudenken. Es ist politisch wichtig, dass die neue Regierung Wort hält, denn dadurch entsteht das Wichtigste, das gegenseitige Vertrauen.“ Die Zeit dürfe nicht verschlafen werden, auch wenn bzw. gerade weil Kommunalwahlen und Europawahlen vor der Tür stehen. Abraham betonte auch seine Sorgen, dass es eine junge Generation in Deutschland gibt, denen die Existenz deutscher Volksgruppen im östlichen Ausland und die Geschichte des Raumes Mittel- und Osteuropa völlig unbekannt ist und alle gemeinsam hier in einer neuen Phase dieses Wissen an die junge Generation übertragen müssten.
Rafał Bartek beschrieb, dass es wichtig sei, in den Dialog mit der polnischen Regierung zu kommen und in ihm zu bleiben, Kontakte zu knüpfen und die politische Agenda in der neuen Situation mit einer gemeinsamen Strategie anzugehen. In den Bereichen der Bildung, der Wissenschaft oder auch der Erinnerungskultur bestünden weiter große Aufgaben. „Trotz der politisch schwierigen Lage in den letzten Jahren konnten wir einige Akzente setzen. Wirwollen nun das Fenster der Möglichkeiten nutzen, dazu werden aber gemeinsame Absprachen benötigt“, bekräftigte Rafał Bartek. Bei den Kommunalwahlen Anfang April will sich die Deutsche Minderheit breiter aufzustellen und erfolgreich mit dem Schlesischen Selbstverwaltungsverein zusammenarbeiten. Dabei geht es darum, sich auch für Personen aus der polnischen Mehrheitsgesellschaft zu öffnen, den regionalen Bezug und die Multikulturalität zu betonen und auch junge Menschen für sich zu gewinnen.
Magdalena Lemanczyk und Hartmut Koschyk fügten hinzu, dass die derzeitige politische Lage nicht ganz ungefährlich ist, da zu dem bereits erwähnten Aspekt der Polarisierung der polnischen Gesellschaft eine minderheitenfreundliche bzw. deutschlandfreundliche Politik der polnischen Regierung einerseits „Wasser auf die Mühlen“ der rechtskonservativen, rechtsnationalen Opposition sein kann, jedoch auch klare Erwartungen an die Bundesregierung damit verbunden sind. Natalie Pawlik antwortete darauf mit der bestehenden engen Zusammenarbeit mit Dietmar Nietan, dem Polen-Beauftragten der Bundesregierung, sowieder Stärkung der Deutschen Minderheit in ihrer Funktion als Mittler und Botschafter, um „mit Aufwind Orte der Begegnungen zu schaffen“.
Zum Abschluss wurde die Idee diskutiert, wie es gerade in Zeiten, in denen es keinen politischen Vertreter der Deutschen Minderheit im Parlament Polens gibt, möglich ist, die Minderheitenpolitik in Warschau weiterhin positiv zu entwickeln und zu prägen. Ein Büro der Deutschen Minderheit in Warschau wie es die DMi in Dänemark in ihrer Hauptstadt habe, sei eine Idee, so Hartmut Koschyk. Rafał Bartek beschrieb die Perspektive, trotz des Verlustes des Mandats im Sejm in der gemeinsamen Kommission der Regierung und der Minderheiten die Arbeit bald wieder aufzunehmen und sich in Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern wie dem Marschall des Sejms und den anderen Minderheiten in Polen intensiv auszutauschen.
Die Stiftung Verbundenheit dankt allen Diskussionsteilnehmern herzlich für ihr Engagement und lädt ein, die Aufnahme der Diskussionsrunde auf ihrem Youtube-Kanal anzuschauen: https://www.youtube.com/watch?v=GZGcSV9Krd8