Vor fast fünf Jahren, im Frühjahr 2020, haben wir, die Beauftragten der Länder für Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler, gemeinsam des 75. Jahrestages des Kriegsendes gedacht und dabei an die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten erinnert. Angesichts der seinerzeit grassierenden Corona-Pandemie war es leider nicht möglich, diesen Anlass so zu begehen, wie es ihm angemessen gewesen wäre. Umso wichtiger ist es, im kommenden Jahr 2025 das Schicksal der von Flucht, Vertreibung und Deportation Betroffenen zu würdigen, sich ihres Leidens zu erinnern und Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen.
Dabei dürfen wir nie vergessen, dass die Vertreibung und Deportation von vielen Millionen Deutschen und Angehöriger anderer Völker aus ihrer Heimat zum Anfang des zweiten Weltkrieges und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vorgeschichte hatten: Schließlich war das nationalsozialistische Deutschland verantwortlich für einen, vor allem im östlichen Europa, mit äußerster Brutalität geführten Eroberungs- und Vernichtungskrieg und den Völkermord an den europäischen Juden. Die Erinnerung daran und der Imperativ des „Nie wieder“ sind unverzichtbarer Bestandteil unserer Gedenkkultur und nationalen Identität. Sie impliziert zugleich aber auch die Verantwortung und den Auftrag, sich stets für Frieden in Freiheit, für Demokratie und Menschenwürde einzusetzen und Krieg, Völkerhass und Vertreibungen zu bekämpfen.
Die Erinnerung an Flucht, Vertreibung vor achtzig Jahren und die bereits zeitlich davor vollzogene Deportation der Deutschen in Russland ist umso wichtiger, als Europa (und leider nicht nur Europa, denken wir z. B. an den Nahen Osten) heute wieder ein Kontinent ist, in dem Angriffskriege geführt, nationaler Hass geschürt und Menschen massakriert und vertrieben werden. Nach den vom Drang nach „ethnischer Säuberung“, nationalem und religiösem Hassbefeuerten Kriegen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo in den neunziger Jahren sind es heute der russische Überfall auf die Ukraine mit seinen mittlerweile in die Hunderttausende gehenden Opfern und Millionen von Heimatvertriebenen, und die von der Weltöffentlichkeit weder zur Kenntnis genommene noch sanktionierte Vertreibung fast der gesamten armenischen Bevölkerung aus Berg-Karabach, die uns fassungslos machen.
Diese Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart belegen, welche Folgen es hat, wenn Vertreibung nicht geächtet, wenn ihre Geschichte nicht umfassend aufgearbeitet und im kollektiven Gedächtnis verankert wird. Das Jahr 2025 bietet nun die Chance, sich gemeinsam mit den noch lebenden Zeitzeugen der damaligen Ereignisse von Flucht, Vertreibung und Deportation zu erinnern. Wir gedenken der dabei und in Internierungs- und ArbeitslagernGetöteten, der Versehrten, der zur Zwangsarbeit Verschleppten und der unzähligen Vergewaltigungsopfer. Viele der von Gewaltexzessen, Not, Hunger, Kälte, Krankheiten und allgegenwärtiger Willkür Betroffenen blieben lebenslang traumatisiert, wobei gerade Frauen, Kinder, Alte und Kranke zu leiden hatten und haben. Diese Traumatisierung wirkt in Folgegenerationen nach. Wiewohl in ihrer neuen Heimat oft unwillkommen und diskriminiert, haben die Vertriebenen wesentlich zum Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg beigetragen. Aussiedler und Spätaussiedler trugen zur positiven Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere nach der Wiedervereinigung, bei. Besonders zu würdigen ist aber, dass die Vertriebenen schon wenige Jahre nach Kriegsende den Völkern des östlichen Europas die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Trotz ihres schweren Verlusts haben sie sich als Brückenbauer um die Einheit und Zukunft Europas verdient gemacht und setzen sich vereint mit Aussiedlern und Spätaussiedlern in der Gegenwart und Zukunft weiterhin dafür ein.